Leserbrief von Walter Altvater an die Kulturredaktion der RHEINPFALZ

„Mutterstadt, 11. Juli 2012

Eine Erwiderung auf „€žSehnsucht nach dem Bildungsbürger“€œ Frank Pommer 5.7.2012

Sehr geehrte Damen und Herren,

Auf den Beitrag Herr Pommers gestatte ich mir folgende Erwiderung:

Bildungsbürger ohne Kultur

oder: Der subventionierte Dünkel

Wenn ein Kulturredakteur über Kultur schreibt, sollte man meinen, der Herr wisse schon aus professionellen Gründen, worüber er schreibt.

Frank Pommer beweist uns das Gegenteil.

„€žWas fehlt,“Âœ, meint er in einem RHEINPFALZ-Artikel vom 5.Juli 2012, „€žist ein Bildungsbürgertum, das als Träger und noch viel mehr Kommunikator dieses kulturellen Gedächtnisses und Bewusstseins fungieren könnte. Das aber, und daran hat die eher linksorientierte Ideologie der „€žKultur für alle“€œ durchaus auch ihren Anteil, ist in diesem Land nicht mehr wohlgelitten.“€œ

Der Arme. Kann sich in wenigen Kilometer Abstand im feinen Anzug bei Wagner den Arsch plattsitzen und das in 2 Städten, die seit Jahren am Bankrott vorbei lavieren und denen deswegen z.B. das Geld für die ordentliche Sanierung ihrer Schulen fehlt und was beklagt er: Es geht ihm noch nicht elitär genug zu in den beiden Arbeiterstädten Mannheim und Ludwigshafen !

Und im selben Atemzug beweist er auch noch mit seiner läppischen Attitüde gegen eine angeblich linke Ideologie der „€žKultur für alle“€œ, dass er überhaupt nicht weiߟ, wovon er redet:

„€žKultur (zu lateinisch cultura „€žBearbeitung, Pflege, Ackerbau“€œ, von colere „€žwohnen, pflegen, verehren, den Acker bestellen“€œ) ist im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur. Kulturleistungen sind alle formenden Umgestaltungen eines gegebenen Materials, wie in der Technik oder der bildenden Kunst, aber auch geistige Gebilde wie etwa Recht, Moral, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft.“€œ

(zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/Kultur)

Oft besteht die „€žBildung“€œ der Schicht, für die Pommer spricht, nur aus ein wenig Nietzsche und Schopenhauer (dem vor allem, der ist so schön platt und lässt sich gut zitieren,“ bei Geburtstagen wie bei Beerdigungen), viel Wagner, ein bisschen Goethe, Schiller, Hölderlin, auch noch Thomas Mann. Daneben steht dann eine breite und noch nicht einmal als Mangel empfundene Ahnungslosigkeit bei allem anderen, was auch noch Kultur ist: Schon bei Heine ist meistens Fehlanzeige und Brecht? „€žIgitt!“€œ

ܜber Technik und Wissenschaft, Ackerbau und Viehzucht wollen wir gar nicht reden.

Ich vergesse nie jene Kollegin, Bildungsbürgerin im Pommerschen Sinne, die in der Mannheimer Kunsthalle ratlos vor dem berühmten Gemälde Kokoschkas, das Brecht und Oskar Maria Graf zeigt, stand und nicht wusste, wer das ist. Von Brecht hatte sie dann wenigstens etwas gehört, Graf war ihr unbekannt.

Das nennt sich dann Bildung.

Da haben doch tatsächlich Studenten Döblin und Hölderlin verwechselt. Wie furchtbar, welche Schande ! Aber immerhin waren sie doch nicht gänzlich ohne jede Ahnung über jenen groߟartigen Roman „€žBerlin Alexanderplatz“€œ.

Kann man denn, wenn man die Breite und Vielfalt der Kulturen ernst nimmt, alles wissen, kennen und können, was €“žKultur“€œ ist? Ist es nicht anmaߟend, einen Kanon vorzugeben? Dahinter steckt doch der Dünkel, dass alles, wovon Pommer & Co nichts wissen, und das ist bestimmt nicht wenig -, nicht „€žKultur“€œ sei!

Dabei umfasst der Begriff Kultur alle schöpferischen menschlichen Ąuߟerungen, geht es bei Kunst darum, dass wir mit unseren gestalterischen Möglichkeiten spielen, mit Worten genauso wie mit Material.

Natürlich muss man nicht spielen, um am Leben zu bleiben, aber was ist das dann für ein Leben.

Im Spiel erproben wir uns, und wenn es gelingt, erweitern wir unsere Möglichkeiten und Horizonte. Deshalb müssen wir als Gesellschaft die Räume schaffen, pflegen und erhalten in denen munter gespielt werden kann.

Lebt nicht auch die ֖konomie mehr und mehr davon, dass uns etwas einfällt? Und wie soll uns Neues einfallen, wenn wir nicht spielen dürfen.

Aber Spiel ist nicht gleich Spiel. Es gibt schöne Spiele, die unser schöpferisches Potential erschlieߟen und es gibt Scheiߟ-Spiele, bei denen es darum geht, dass wir uns wechselseitig kaputt machen.

Ein solches Scheiߟ-Spiel zelebriert gerade die sogenannte „€žFinanzindustrie“€œ. Da wird in einer Art weltweitem Poker das ganz groߟe Rad gedreht und wenn’€™s in die Hose geht, ruft man nach „€žMutti“€œ und lässt sich retten. Das Ganze wird garniert mit eine Art religiösen Wahn, der zum Ausgleich eigener Verluste „€žnotwendige Opfer“€œ von anderen fordert, so wie weiland Karthagos Priester die Erstgeborenen schlachteten, als Hannibal immer mehr Schlachten verlor.

Deswegen sollten wir, bevor wir weiter darüber nachdenken, welches Schwimmbad oder Theater wir als nächstes schlieߟen, endlich dieses Finanz-Casino dichtmachen.

Weder die Menschen in Griechenland, Italien, Spanien noch in Deutschland leben über ihre Verhältnisse€œ. Sie haben alle das Recht Spaߟ an ihrem Leben zu haben.
Was wir uns tatsächlich nicht mehr leisten können, sind Berufszocker mit Staatsgarantie.

Was wir uns aber auch nicht mehr leisten sollten, sind blasierte Bildungsbürger, die mit der allergröߟten Selbstverständlichkeit erwarten, dass der Staat ihre Spiele finanziert, weil es ja angeblich um was „€žErnstes“€œ gehen soll im Gegensatz zur bloߟen „€žUnterhaltung“€œ der „€žMasse“€œ, die sich ihr Vergnügen selbstverständlich selber finanzieren muss.
Und die mit der gleichen Selbstverständlichkeit daran arbeiten bzw. ihre Lobbyisten daran arbeiten lassen, sich vor jeder Steuerzahlung zu drücken.

Ein gutes Spiel ist immer beides: Gute Unterhaltung und eine ernsthafte und ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit dem Leben.

Der groߟe Shakespeare ist auch deshalb so groߟ, weil er immer auch ein fantastischer Unterhalter bleibt, selbst wenn es um durch und durch ernste Themen geht, wie Machtgier, Lüge, Mord, unglückliche Liebe, Intrigen etc.

Und der „€žParceval“€œ des Wolfram von Eschenbach ist einerseits ein groߟartiges, humorvolles Stück Unterhaltung und andererseits ein intellektuelles Vergnügen voll feiner Ironie und tiefer Lebensweisheit.

Dagegen gibt es eine bestimmte Art von Fest- und Feierkunst, deren Hauptzweck darin besteht, sich selbst zu feiern und für wichtig zu halten.

Diese Bombast-Kunst muss man weder haben noch sich antun.

Und solange es dabei um die Stones geht, diese inzwischen müde und abgenudelte Truppe, die Bill Wyman zu recht verlassen hat, bleibe ich einfach zu Hause und spare mir mein Geld.

Warum ich aber als Steuerzahler verpflichtet sein soll, „€žEvents“ zu finanzieren, deren Hauptzweck darin besteht, dass die Gattin mit der Garderobe und der Gatte mit der Gattin angeben kann, ist mir schleierhaft. Und wenn die einem antisemitischen 19.-Jahrhundert-Komponisten gelten, der fantastische mittelalterliche Vorlagen (z.B. den Parceval) in schwer erträgliche, schwülstiges, literarisch minderwertige Librettos verhunzt und diese Schandtat mit lauter Musik überdeckt hat, wie ein schlechter Koch sein schlechtes Essen mit €žMaggie€œ, dann sage ich „€žNein“€œ.

Natürlich brauchen wir Geld, auch staatliches, für ein breites kulturelles und künstlerisches Angebot und natürlich brauchen wir, wenn wir mehr Menschen z.B. mit dem Theater erreichen wollen, auch eine Schicht von gebildeten Menschen, die sich als Förderer und Vermittler verstehen und engagieren.

Was wir in einem demokratische Staat dagegen nicht brauchen ist elitäres Gehabe. Die gesamte staatliche und vor allem kommunale Infrastruktur leidet derzeit an Unterfinanzierung. Ohne die Bereitschaft unseren Geldbeutel zu öffnen und ohne mehr bürgerschaftliches Engagement wird sich nichts zum Besseren wenden.

Es wäre schön, sehr geehrter Herr Pommer, sie dabei an unserer Seite zu wissen, nicht nur mit Forderungen, sondern vor allem mit Vorschlägen !

Mit freundlichen GrüßenŸ

Walter Altvater“

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